100 Jahre Rathaus - Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

 

Besetzung und direkte Nachkriegszeit

Am 2. April 1945 verließen die letzten Soldaten Herford. Mit ihnen „verdrückten“ sich auch die Parteigrößen um Kreisleiter Ernst Nolting und der Oberbürgermeister Fritz Kleim. Sie bestiegen in Partei-Uniform ein Autor und fuhren über die Weser bei Vlotho nach Osten. OB Kleim, der auf „höheren“ Befehl handelte, hatte Stadtkämmerer Tiemann gebeten, die Geschäfte der Stadtverwaltung weiterzuführen. In Rinteln standen sie dann den Amerikanern im Kampf gegenüber. Nolting fiel am 11. April 1945. Kleim geriet in amerikanische Gefangenschaft, kam in ein Internierungslager, wo er am 27. Dezember 1945 starb.

Tiemann empfing am Mittag des 4. April 1945 die Amerikaner und übergab ihnen offiziell die Stadt. Zur Wiederherstellung der Ordnung wurde eine Hilfspolizei unter dem Befehl des Fabrikanten Angenete organisiert, 120 Mann ohne Waffen mit Armbinden. Danach wurden auf dem Rathaus die amerikanische, englische und sowjetische Fahne aufgezogen. Augenzeugen berichten von Plünderungen in den Kasernen und vielen Privathäusern. Heinrich Tiemanns rief die Bevölkerung zum „Pflichtbewusstsein bis zum Äußersten“ auf. Ein amerikanischer Oberst übernahm offiziell die Stadt und richtete im Rathaus seine Büros ein. Erste Verordnungen der Militärregierung (auch gegen Plünderungen) wurden plakatiert. Am 5. April 1945 wurde Stadtkämmerer Tiemann von der Militärregierung als kommissarischer Oberbürgermeister eingesetzt.

Es begann eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen dem amerikanischen Stadtkommandanten und Bürgermeister Tiemann, dem als ehrenamtlicher Vertreter aus der Bürgerschaft der Geschäftsführer Karl Hesse (SPD) beistand. Am 27. April 1945 fand im Amtszimmer Tiemanns eine Besprechung zur Bildung eines beratenden Ausschusses statt. Es gab Streit wegen früherer Angehöriger der NSDAP. Vier ehemals „bürgerlichen Parteien angehörige Ausschussmitglieder“ legten ihr Amt sofort wieder nieder. Am 8. Mai 1945, dem Tag des offiziellen Kriegsendes, gelang es im zweiten Anlauf einen arbeitsfähigen „beratenden Ausschuss“ der Bürgerschaft zu installieren. Es gab große Probleme zu bewältigen. So musste die Verpflegung für die 10.000 bis 11.000 polnischen und russischen Zwangsarbeiter, die in zehn Lagern kaserniert waren organisiert werden, ebenso die Kohlenbeschaffung für die Versorgungsbetriebe (EMR und Stadtwerke) und die Privathaushalte, die Weiterzahlung des Familienunterhalts und der Alters-, Invaliden- und Angestelltenrenten, die bevorstehende Meldepflicht zur Arbeitserfassung, die Ernährungslage der Herforder Bevölkerung insgesamt und die schnelle Räumung der Kriegsgefangenenlager im Jahn-Stadion. Auch sollte schnell die Entfernung einer Reihe von Nationalsozialisten aus führenden Stellungen der Stadtverwaltung gelingen. Da noch viele der Verwaltungsmitarbeiter im Kriegsdienst oder politisch belastet waren, wurden zahlreiche neue Tarif- und Aushilfsangestellte eingesetzt. Die Verwaltung begann wieder, ihre Aufgaben zu erledigen.

Am 15. Mai 1945 lösten britische Einheiten die amerikanischen Soldaten ab. Herford gehört nun zur britischen Zone. Einen Tag später übermittelte der kommissarische Oberbürgermeister Tiemann den Bewohnern des Stadtteils Stiftberg schriftlich den Räumungsbefehl, begründet mit der „Einrichtung eines alliierten Hauptquartiers in der Stadt Herford“. Bis zum Pfingstsonntag, dem 20. Mai, 20 Uhr, mussten die Häuser und Wohnungen zur Belegung mit englischen Besatzungssoldaten geräumt und die Schlüssel im Schützenhof abgegeben sein. Die Menschen überließ man bei ihrer Suche nach einer neuen Bleibe sich selbst. Der bisherige Eigentümer oder Mieter musste bis zum 22.Mai, 12 Uhr, im Rathaus mitteilen, „wo sie Ihre Wohnung gefunden haben.“ Erst 1946 wurde ein Wohnungsamt eingerichtet, das bis 1964 die Wohnungen vergab. Auch für Vertriebene und Flüchtlinge mussten Unterkünfte organisiert werden. Die letzten beschlagnahmten deutschen Häuser wurden 1956/57 ihren Eigentümern wieder übergeben.

Als Heinrich Tiemann sein Amt als Oberbürgermeister wegen der zu großen Belastung niederlegte, wurde Dr. Friedrich Holzapfel zum 10. Juli 1945 als OB eingesetzt. Am 21. Januar 1946 versammelte sich die von der Militärregierung eingesetzte Stadtvertretung erstmals. Der britische Oberst Donner hielt eine eindrucksvolle Rede und mahnte zum demokratischen Handeln. Am 13. Oktober 1946 fanden die ersten demokratischen Stadtverordnetenwahlen statt. Und die Versammlung wählte am 29. Oktober 1946 Heinrich Höcker (SPD) zum neuen Oberbürgermeister. Damit waren Stadtpolitik und -verwaltung wieder handlungsfähig. Nach britischem Muster wurde 1947 ein Verwaltungsleiter, Fritz Mester als Oberstadtdirektor, eingesetzt.

Die Rathausräume 37 bis 55 beschlagnahmte die britische Militärregierung, auch den großen Sitzungssaal belegte sie. Deshalb muss das Katasteramt, Kurfürstenstraße 17, umziehen. Das Versicherungs- und das Standesamt wichen in das Gebäude des Weinclubs, Auf der Freiheit 3, aus. Das Ernährungsamt fasste die bisherigen vier Stellen für die Lebensmittelkarten-Ausgabe im Juli 1945 wieder im Rathaus zusammen. Die Zahl der Beschäftigten konnte es von 35 auf 21 reduzieren. Am Rathaus und vor der Polizeiwache wurden die Betonsplitterschutzwände entfernt. In den Jahren 1947/48 wurden mit der Neueindeckung des Rathausdaches und mit letzten Glaserarbeiten die letzten Kriegsfolgen am Rathaus beseitigt. Auch die Markthalle bekam ein neues Dach. Und mit dem Einbau einer Bedürfnisanstalt im Hof der Markthalle zur Elisabethstraße wurde sie vervollständigt.

Das Polizeiamt war nach Kriegsende keine kommunale Behörde (Ortspolizeibehörde) mehr. Vielmehr wurde es von der Regierung in Minden (später Detmold) aus verwaltet. 1948 nutzte das Polizeiamt die alte Wache Mitte, die Gefängniszellen und die Räume 12 bis 19 im Erdgeschoss des Rathauses, sowie eine Dunkelkammer und einen Abstellraum auf dem Dachboden. 1947 zahlte die Polizei etwa 11.000 Reichsmark Miete inklusive der Nebenkosten und des Inventars.

Das weitgehend unzerstörte Rathaus war 1946 ein Ort besonderer Begegnungen: OB Friedrich Holzapfel bekam als Mitbegründer der CDU in Westfalen von der Militärregierung die Genehmigung für eine Sitzung der Partei in Herford am 22./23. Januar 1946, auf der sich die CDU innerhalb der britischen Zone zusammenfinden sollte. Nachdem sich die Teilnehmer im Kleinen Rathaussaal eingefunden hatten, bemächtigte sich Konrad Adenauer, der die CDU im Rheinland mit gegründet hatte, als Alterspräsident der Versammlungsleitung und bootete seinen Konkurrenten Hermes aus Berlin als nicht stimmberechtigt aus. Überraschend schnell wurde Konrad Adenauer dann zum vorläufigen Zonen-Vorsitzenden gewählt, was seine weitere Karriere eröffnete. Dr. Friedrich Holzapfel wurde sein Stellvertreter.

Im Oktober 1946 trafen sich im Rathaus 20 britische und schottische Bischöfe mit etwa 50 deutschen Bischöfen und Kirchenführern, um die bedrückenden Notstände der Nachkriegszeit und entsprechende Hilfsmaßnahmen zu erörtern. Zu einem ökumenischen Gottesdienst im Münster versammelten sich Tausende von Gläubigen. Und auf dem Rathausplatz erklangen Posaunenchöre mit 600 Bläsern.

 

Die 1950er Jahre: Das Rathaus als Gerichtsgebäude

Zu Beginn der 1950er Jahre war die Stadtverwaltung konsolidiert. Neben der politischen Vertretung mit dem 1952 und 1954 wiedergewählten Oberbürgermeister Heinrich Höcker besteht die Verwaltungsleitung nun aus den Dezernenten Oberstadtdirektor Fritz Meister, Stadtdirektor Karl Wöhrmann (bis 1958), Stadtkämmerer Heinrich Schnier und Stadtbaurat Gerhard Schönborn, der 1956 von Stadtbaurat Dr. Walter Fiereck abgelöst wurde.

Einige Stadtämter werden in Folge der Abwicklung der Kriegs- und Besatzungsfolgen neu aufgebaut. Aus dem Amt für Soforthilfe im Sozialamt wird das Lastenausgleichsamt, für die Familienfürsorge (Wirtschafts-, Jugend- Gesundheits-, Flüchtlings- und Wohnungsfürsorge) entsteht eine neue Abteilung beim Gesundheitsamt. Die Abwicklung von Kriegs- und Besatzungskosten (insbesondere durch die Besetzung und Wiederfreigabe zahlreicher Fabriken und Privathäuser) übernimmt ab 1952 ein Besatzungskostenamt. 1956 wird es in „Amt für Verteidigungslasten“ umbenannt. Drei Jahre später wird die Verwaltung nach gebräuchlichen Prinzipien neu gegliedert. Die Ämter erhalten nun Dezimalziffern, so das Hauptamt die Nummer 10. Die Zahl der Verwaltungsbeamten und -angestellten vergrößert sich ab 1952 von 358 Personen bis 1956 auf 416. Bis Ende 1960 reduziert die Verwaltung sich auf 396, die Zahl der städtischen Arbeiter steigt von 233 auf 245 im Jahr 1960.

Größere Themen der Stadtverwaltung sind die starke Zunahme des Straßenverkehrs, der Wohnungsbau für Verdrängte, Vertriebene und Flüchtlinge, die Normalisierung und der Ausbau des Schulbetriebes, der Aufbau eines neuen Kulturwesens, der Neuaufbau eines Verkehrsbüros, die Sanierung und Erweiterung des Stadt- und Kreiskrankenhauses sowie der Ausgleich von der Kriegs- und Vertreibungsschäden.

Das Ausgleichsamt, in der Nachfolge eines Soforthilfeamtes, wird 1952 mit 20 Kräften zunächst im ausgebauten Dachgeschoss des Rathauses untergebracht. Es kann ins 1. Obergeschoss wechseln, nachdem die Militärregierung die besetzten Räume freigegeben hatte.

Nachhaltige Folgen für das Stadtbild hat der Straßenbau. In den 1950er Jahren war er geplant worden, in den 1960 bis 1970er Jahren wurde er umgesetzt: Der Bahnhofsvorplatz wandelt sich in einen großer Busbahnhof. Dazu mussten einige Häuser abgerissen werden.

Aus der „Durchbruchstraße in der Innenstadt“ entwickelt sich der heutige Straßenzug Auf der Freiheit – Berliner Straße – Johannisstraße. Die Stadt wird „autogerecht“. Manch historische Straßenzüge und Häuser gingen verloren.

Im Rathaus selbst wurde neben dem Ausbau des Dachgeschosses für Bürozwecke der Ratskeller „gründlichst“ renoviert, mit neuem Linoleumboden, Bierausschank, Kühlanlage, Beleuchtung und Erweiterung der Damentoiletten. In der Markthalle wurden durch Bomben beschädigte Decken mit Rigipsplatten verkleidet, die Wände neu gestrichen und eine neue Beleuchtungsanlage eingebaut.

Ab Mitte der 1950er versucht die Stadt ihren wachsenden Raumbedarf zu klären. Sie schreibt der Politverwaltung, dass durch die „Beschlagnahme von rund 30 Räumen und des großen Sitzungssaales im Rathaus durch den Kreis Resident Offizier bzw. das Appellationsgericht die Dienststellen der Stadt sehr eingeengt“ seien. Man hätte schon private Räume anmieten müssen. Deshalb solle dem Polizeiamt zum 31. März 1956 gekündigt werden. Dieses Ansinnen kann die Polizei nicht erfüllen. Stattdessen gibt es umfangreiche Verhandlungen über den Mietpreis für den Wachraum, die Zimmer 12 bis 19 im Erdgeschoß und einen Fotoraum im Dachgeschoß. Ende 1956 wird die Miete auf etwa 2.200 DM festgelegt, was bis zum Auszug der Polizei in das neue Gebäude, Elverdisser Straße 12, Anfang der 1960er Jahre so bleibt.

1955 bekommt das Rathaus aber einen neuen Mieter: das Bundesministerium der Justiz. Das Rathaus wird Sitz eines Bundesgerichtes, des Obersten Rückerstattungsgerichts (ORG). Es war eines der wichtigsten Instrumente zu Bewältigung des NS-Unrechtes in Deutschland. Die 1945 von den Briten beschlagnahmten Räume waren schon ab den 1950er Jahren von Gerichten der britischen Besatzungszone genutzt worden: dem Board of Review (von 1950 bis 1954) und dem Supreme Restitution Court for the British Zone (von 1954 bis 1955). Die Gründung des ORG, 1955, sollte die Nachfolge derjenigen Gerichte übernehmen, die zuvor aufgrund der besatzungsrechtlichen Rückerstattungsgesetzgebung in den Besatzungszonen der drei Westalliierten als oberste Instanzen für Rückerstattungssachen existiert hatten.

Mit neuen gesetzlichen Grundlagen wurde das international besetzte Gericht 1955 weiterhin in Herford angesiedelt. Ende Juni jenen Jahres bat das Bundesministerium um die Vorbereitung eines Mietvertrages. Genutzt werden sollten die Räume 85 bis 102 im 2. Obergeschoß ständig und der große Sitzungssaal für die Dauer von acht Werktagen in Monat. Ein Mietvertrag über 2.333,78 DM inklusive Nebenkosten wurde abgeschlossen. Nun sollte immer rechtzeitig mitgeteilt werden, wann das Gericht den Sitzungssaal nutzen will. Zunächst gab es drei Senate mit je fünf Richtern, von denen jeweils zwei von der Bundesregierung ernannt wurden, die anderen drei von den Besatzungsmächten.

Langjähriger Geschäftsstellenleiter des Obersten Rückerstattungsgerichts war Edward Arthur Marsden, Sohn der in Herford geborenen Käthe Elsbach (die mit ihrem Mann Adolf Maass im KZ Auschwitz ermordet wurde). Er emigrierte 1934 nach England, änderte dort als britischer Soldat 1940 seinen Namen und kam 1947 im Dienst der Briten wieder nach Herford. Er wurde als Jurist zum Geschäftsstellenleiter der Vorgänger des ORG und seit 1955 des 2., britisch geprägten Senates des ORG, „aber“ (UNVERSTÄNDLICH) 1966 für den 2. und 3. Senat.

Marsden verstarb 1985.

Im Februar 1960 begannen Verhandlungen über die künftige Unterbringung des ORG, da die räumlichen Verhältnisse es „unmöglich“ machten, das Gericht weiterhin Haus zu belassen. Angeboten wurde ein von der Herforder Wohnbau geplantes Haus an der Ecke Berliner-/Petersilienstraße. Schließlich kündigte die Stadt zum 1. Oktober 1960. Das Justizministerium prüfte, ob die Stadt dazu überhaupt das Recht hat, ließ sich aber darauf ein. Nach Fertigstellung des Baues räumte das ORG die Räume im Oktober 1961 endgültig. Es hatte noch bis zur Verlegung nach München zum 1. Januar 1985 seinen Sitz in der Stadt.